Ein Porträt
Von
Lou Andreas-Salomé
Stuttgart 1901
J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger
G. m. b. H.
Alle Rechte vorbehalten
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart
Die Iberische Mutter Gottes fuhr spazieren.
Aus der Tiefe ihres kerzenerhellten blaugoldschimmerndenTempelchens vor dem Eingangzum Schönen Platz am Kreml war sie von ehrfürchtigenHänden in den Wagen gehoben worden.
Da saß sie nun im prächtigen Vierspänner, ihrerständigen Equipage, breit auf dem Vordersitz, ihrgegenüber zwei Priester in reichen scharlachrotenGewändern, Kreuz und Weihrauchgefäß vor sich hinhaltend.
Irgend eine der kleinern Glocken im Kreml bimmelteund bimmelte. Hin und wieder nur unterbrachein vereinzelter tiefer Glockenton, lang nachdröhnendund wie verträumt, dies helle Geläute. Hoch überden verschneiten Straßen klang es unermüdlich, mitdringlicher Monotonie, in den Winterwind hinein.
Die Menge umringte den Wagen so nahe, alssie es vermochte, junge Gesichter und alte, bärtigebückten sich in gleich demutvollem Eifer, um einenKuß auf das wunderthätige Bild zu erhaschen oderwenigstens auf den Rahmen daneben.
Ein paar elegante Offiziere, die über den Woßkreßenskiplatzherkamen, machten mitten auf dem Fahrdamm Halt, beugten das Knie in den Schnee und bekreuzigtensich feierlich mit bis zur Strenge ernstenMienen.
Täglich fuhr die Iberische Mutter aus, um allenBesuchsanforderungen zu genügen, dennoch mußte oftihre Gegenwart in einem Haus wochenlang vorhererfleht werden, damit sie noch Zeit dafür fand.
Langsam lenkte der imposante Kutscher, trotz derempfindlichen Kälte entblößten Hauptes, seine vierRappen aus dem Menschenhaufen heraus.
Viele blieben noch stehn, um ihm nachzuschauen.Auf den Stufen zum Tempelchen lagerten Pilger,Bastschuhe an den tücherumwickelten Füßen, den Stabin der Hand. Mit ihren Anliegen wandten sie sichjetzt an die Kopie des Bildes, die stellvertretend imHeiligtum hing, und steckten betend brennende Wachskerzendavor auf.
So mehrte sich drinnen immer noch Licht um Lichtzu erhöhtem Glanze, — von außen anzusehen wie einemächtige gelbflimmernde Sonne, die mitten im nüchternenAlltag des Straßenlebens gleich einem leuchtendenGeheimnis dastand und winkte und winkte —.
Die Mutter Gottes im Vierspänner hatte mitnicht gar vielen Equipagen zu konkurrieren. Wer siefahren sah, konnte sie gut für die große Dame Moskaushalten und für den Inbegriff des heiligen MütterchensMoskau selbst.
Was da auf dem hartgefrorenen Schnee an Fuhrwerkenvorüberglitt, waren fast nur kleine, niedrigeSchlittchen, wie sie für wenige Kopeken sogar dem Volk zugänglich sind. Weiber mit Sack und Pack befandensich häufig drin, Bauern in hoch um die Ohrengeschlagenen Schafpelzen. Seltener schon flog eineTroika des Weges dahin, und, zugleich mit dem lustigenschellenläutenden Dreigespann, vielleicht irgend einLied, angestimmt von den Insassen, — ein Lied, wiees in den Theebuden zur Harfe gesungen wird oderin Sommernächten vor der Thür der Dorfhütten.
Das zitterte dann mit dem nachschwingendenGlockenton wundersam in eins zusammen, — selbstdann wundersam in eins, wenns zufällig ein Tanzliedwar. Auch dann mußte es der Iberischen Mutterheimisch entgegenklingen.
Und auch unter den Fußgängern begegneten ihrvorherrschend ihre ureigensten Kind