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Wilhelm Meisters Lehrjahre—Buch 4
Johann Wolfgang von Goethe
Viertes Buch
Erstes Kapitel
Laertes stand nachdenklich am Fenster und blickte, auf seinen Armgestützt, in das Feld hinaus. Philine schlich über den großen Saalherbei, lehnte sich auf den Freund und verspottete sein ernsthaftesAnsehen.
"Lache nur nicht", versetzte er, "es ist abscheulich, wie die Zeitvergeht, wie alles sich verändert und ein Ende nimmt! Sieh nur, hierstand vor kurzem noch ein schönes Lager, wie lustig sahen die Zelteaus! wie lebhaft ging es darin zu! wie sorgfältig bewachte man denganzen Bezirk! und nun ist alles auf einmal verschwunden. Nur kurzeZeit werden das zertretene Stroh und die eingegrabenen Kochlöcher nocheine Spur zeigen; dann wird alles bald umgepflügt sein, und dieGegenwart so vieler tausend rüstiger Menschen in dieser Gegend wirdnur noch in den Köpfen einiger alten Leute spuken."
Philine fing an zu singen und zog ihren Freund zu einem Tanze in denSaal. "Laß uns", rief sie, "da wir der Zeit nicht nachlaufen können,wenn sie vorüber ist, sie wenigstens als eine schöne Göttin, indem siebei uns vorbeizieht, fröhlich und zierlich verehren!"
Sie hatten kaum einige Wendungen gemacht, als Madame Melina durch denSaal ging. Philine war boshaft genug, sie gleichfalls zum Tanzeeinzuladen und sie dadurch an die Mißgestalt zu erinnern, in welchesie durch ihre Schwangerschaft versetzt war.
"Wenn ich nur", sagte Philine hinter ihrem Rücken, "keine Frau mehrguter Hoffnung sehen sollte!"
"Sie hofft doch", sagte Laertes.
"Aber es kleidet sie so häßlich. Hast du die vordere Wackelfalte desverkürzten Rocks gesehen, die immer vorausspaziert, wenn sie sichbewegt? Sie hat gar keine Art noch Geschick, sich nur ein bißchen zumustern und ihren Zustand zu verbergen."
"Laß nur", sagte Laertes, "die Zeit wird ihr schon zu Hülfe kommen."
"Es wäre doch immer hübscher", rief Philine, "wenn man die Kinder vonden Bäumen schüttelte."
Der Baron trat herein und sagte ihnen etwas Freundliches im Namen desGrafen und der Gräfin, die ganz früh abgereist waren, und machte ihneneinige Geschenke. Er ging darauf zu Wilhelmen, der sich imNebenzimmer mit Mignon beschäftigte. Das Kind hatte sich sehrfreundlich und zutätig bezeigt, nach Wilhelms Eltern, Geschwistern undVerwandten gefragt und ihn dadurch an seine Pflicht erinnert, denSeinigen von sich einige Nachricht zu geben.
Der Baron brachte ihm nebst einem Abschiedsgruße von den Herrschaftendie Versicherung, wie sehr der Graf mit ihm, seinem Spiele, seinenpoetischen Arbeiten und seinen theatralischen Bemühungen zufriedengewesen sei. Er zog darauf zum Beweis dieser Gesinnung einen Beutelhervor, durch dessen schönes Gewebe die reizende Farbe neuerGoldstücke durchschimmerte; Wilhelm trat zurück und weigerte sich, ihnanzunehmen.
"Sehen Sie", fuhr der Baron fort, "diese Gabe als einen Ersatz fürIhre Zeit, als eine Erkenntlichkeit für Ihre Mühe, nicht als eineBelohnung Ihres Talents an. Wenn uns dieses einen guten Namen und dieNeigung der Menschen verschafft, so ist billig, daß wir durch Fleißund Anstrengung zugleich die Mittel erwerben, unsre Bedürfnisse zubefriedigen, da wir doch einmal nicht ganz Geist sind. Wären wir inder Stadt, wo alles zu finden ist, so hätte man diese kleine Summe ineine Uhr, einen Ring oder sonst etwas verwandelt; nun gebe ich aberden Zauberstab unmittelbar in Ihre Hände; schaff