Der Jugend von 8-12 Jahren erzählt
durch
Dr. med. Hans Hoppeler
Kinderheim Zürichberg.
Sechzehntes bis zwanzigstes Tausend.
Verlag: Art. Institut Orell Füßli, Zürich.
Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1916 by Art. Institut Orell Füssli, Zürich
Die Notwendigkeit, seine Kinder über die Entstehung des Lebens selber zubelehren, statt diese Aufgabe dem Zufall und der Straße zu überlassen,wird heutzutage nur noch von wenigen Eltern bestritten. Und doch ergabkürzlich eine Rundfrage in meinem Kinderpflege-Kurse, daß von den vielenanwesenden Töchtern nicht einmal fünf Prozent durch ihre Eltern sexuelleAufklärung empfangen hatten. Ursache dieser Erscheinung: es kommt vielengar schwer vor, den geeigneten Moment, den richtigen Ton, die passendenWorte zu finden, und so wird die Sache wider besseres Wollen immerwieder verschoben, bis man plötzliche entdeckt, (— oder auch jahrelangnicht entdeckt —), daß Gassenbuben oder gute Kameraden längst einemzuvorgekommen sind. Wüßten aber die Mütter, wie die Belehrungausgefallen, sie würden sich entsetzen. Aus solcher Überlegung herausentstand das vorliegende Büchlein, ein offenes Wort an Stelle geheimenFlüsterns und ungesunden Tuschelns hinter Eltern und Lehrern. Gebt eseuern Kindern nicht zu spät, denn auch das harmloseste Gemüt kann durchunversehens eintretende unberufene Aufklärung Schaden leiden. — Wer dieErzählung zu realistisch findet, bedenke, daß auf diesem GebieteVerschleierung und allzu blumenreiche Poesie mit der Realistik derStraße niemals in Konkurrenz treten können.
Möge die kleine Arbeit segensreich wirken und manchen Kindern ersparen,was leider vielen von uns Erwachsenen nicht erspart geblieben ist.
Zürich, im Juni 1916
Dr. Hans Hoppeler.
[7]Am Gartenzaune eines freundlichen Hauses an der Freien Straße in Zürichstand ein blonder etwa 40jähriger Herr in dunklem Überzieher, undblickte durch das kleine Vorgärtchen hinein in die geöffneten Fensterdes Erdgeschosses. Er trug ein braunes Reisetäschlein in der Hand undkam offenbar vom Bahnhofe. Vielleicht hatte er eine weite Reise hintersich, war hungrig und müde. Trotzdem schien er es nicht sehr eilig zuhaben, an sein Ziel zu kommen; denn schon einige Minuten hatte er nunhier vor dem Hause gestanden, und noch immer machte er keine Anstalten,weiter zu gehen. Es war aber auch wirklich unterhaltsam und lustig, waser da drinnen sah. Eine große Zahl Kinder, wohl fünfzig mochten es sein,saßen da auf langen Bänken, alle mäuschenstill. Die Hände hielten siealle auf dem Rücken verschränkt, und gespannt blickten sie nach vorn, umdie prächtige Geschichte vom Zigeunerfriedel zu hören, die ihnen soebenTante Emma erzählte. Und wie konnte diese herrliche Tante desKindergartens erzählen! Grad' zu hören meinte man all' die Glocken,Pfeifen, Orgeln und Ausrufer, wenn sie den Jahrmarkt von Goßlingenschilderte, und Tränen des Mitleids liefen da und dort einem Kinde überdie Wangen, wenn sie vom langen Balthasar berichtete, demZigeunerhauptmann mit dem furchtbar großen Schlapphut, der den Friedelplagte bei Tag und bei Nacht, bis er seine Seiltänzervorstellungen[8]gelernt ha