Heinrich Mann
Einundfünfzigstes bis sechzigstes Tausend
Kurt Wolff Verlag
Leipzig
Gedruckt bei Dietsch & Brückner in Weimar
Copyright Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1917
Die Armen
Die Kinder schrien tosend vor dem großen Arbeiterhausvon Gausenfeld; hunderte von Kindern, hervorgequollenaus dem überfüllten Haus, worin sie allegeboren waren, rannten, zappelten, prügelten sich aufder grauen Wiese. Alte Männer, die nicht mehr arbeiteten,standen, wenn sie besonnt war, an der Mauerund sahen ihnen zu. Die Kleinsten fielen unaufhörlichin den Graben, der die Wiese von der Landstraßetrennte, immer eilten Mütter oder Schwestern zumRetten herbei. Die Größeren sprangen hinüber, amliebsten auf der Seite, wo der Graben neben dem Wegzum Friedhof lief; und drüben warfen sie einandergegen den wackligen Zaun der Villa Klinkorum. Brachein Brett heraus, dann rasch hinein und Äpfel holen.Der Besitzer hörte mit Zorn und Entsetzen dasKnacken der Zweige, die sie mitrissen, aber auf seinensteifen Beinen kam er immer zu spät, sie waren schondraußen und zeigten ihm aus einiger Entfernung dasunreife Obst, es sei auf der Straße gelegen. Dannhielt er ihnen eine Rede über das Eigentum und dieBildung, immer dieselbe Rede, denn niemals merkteer, daß er es mit denselben Jungen zu tun hatte. Klinkorumwar Schullehrer gewesen, aber einer für dieReichen; und weil ihm schon die Zähne ausgefallenwaren, wollte er nun hier sich mausig machen. Kaumwar er fort, polterten alle gegen seinen Zaun, undirgendeiner kroch hinein und setzte ihm etwas aufden Gartenweg. Der alte Malermeister, der unten imHaus wohnte, durfte es sehen, er lachte, wenn er auchschalt. Nur den kleinen Mädchen war es von ihrenMüttern streng verboten, ihm zu nahe zu kommen.
Dies war nicht alles, was Professor Klinkorum zuerdulden hatte. Kehrte er aus der Stadt heim, zuweilenschon ganz nahe bei seinem Grundstück überholteihn, wie er auch hastete, das Heßlingsche Automobilund bedeckte ihn mit Staub oder Schmutz. GeneraldirektorGeheimer Kommerzienrat Dr. Heßlingin seinem Staubmantel blickte unerbittlich geradeaus,und Klinkorum, von außen gegen seinen eigenen Zaungedrängt, äugte mit ohnmächtigem Haß, bis er, ganz ineiner stinkenden Wolke befangen, die Augen schloß.Innerlich hielt er in solchen Minuten seine zweiteRede über das Eigentum, die Rede dagegen, — wennes nämlich schrankenlos und überheblich war. DieBildung war das Erste und mußte es bleiben.
Damit ging er hinauf in sein Studierzimmer. Vonhier übersah er ganz Gausenfeld, hinter den Arbeiterhäuserndas wüste Gelände, bis zum Wald, bis zurFabrik. Es ward Nacht, an der Friedhofsmauer dieLampe leuchtete nahe, und weit dorthinten die gereihtenLichter der Fabrik.
Aus der Fabrik kehrten die Arbeiter heim; ihr Massenschrittdröhnte, von ferne fühlbar, bis in das Studierzimmer;und Klinkorum dachte nicht ohne Achtungan den Herrn der Massen, ihn, Heßling, Besitzer Gausenfelds,großen Reichtums und mancher Würden. Wiehatte er es dahin gebracht, als Chemiker und Papierfabrikant?Durch Machenschaften und Kunstgriffe geschäftlicher