H. C. Andersens Märchen

Die Nachtigall
Die kleine Seejungfrau
Der Reisekamerad

von
H. C. Andersen

Mit Zeichnungen
von
Alfred Kubin

Im Verlag von Bruno Cassirer, Berlin
1922

Die Nachtigall

In China, weißt du wohl, ist der Kaiser einChinese, und alle, die er um sich her hat,sind auch Chinesen. Es ist nun viele Jahreher, aber eben deshalb ist es der Mühewert, die Geschichte zu hören, ehe sie vergessenwird! Des Kaisers Schloß wardas prächtigste in der Welt, ganz undgar von feinem Porzellan, sehr kostbar,aber so spröde, so mißlich, daran zurühren, daß man sich sehr in acht nehmenmußte. Im Garten sah man die wunderbarsten Blumen,und an die prächtigsten waren Silberglocken gebunden,welche klangen, damit man nicht vorbeigehen möchte,ohne die Blumen zu bemerken. Ja, alles war in des KaisersGarten fein ausspekuliert. Und er erstreckte sich so weit, daßder Gärtner selbst das Ende desselben nicht kannte. Gingman immer weiter, so kam man in den herrlichsten Wald mithohen Bäumen und tiefen Seen. Der Wald ging geradehinunter bis zum Meere, welches blau und tief war, großeSchiffe konnten bis unter die Zweige der Bäume hinsegeln,und in diesen wohnte eine Nachtigall, die so herrlich sang,daß selbst der arme Fischer, der noch viel anderes zu tunhatte, still hielt und horchte, wenn er des Nachts ausgefahrenwar, um das Fischnetz auszuwerfen und dann dieNachtigall hörte. „Ach Gott, wie ist das schön!“ sagte er,aber er mußte auf seine Sachen acht geben und vergaß dabeiden Vogel. Doch wenn dieser in der nächsten Nacht wiedersang und der Fischer dorthin kam, sagte derselbe: „Ach Gott,wie ist das schön!“

Aus allen Ländern der Welt kamen Reisende nach derStadt des Kaisers und bewunderten diese, das Schloß undden Garten. Doch wenn sie die Nachtigall zu hören bekamen,sagten sie alle: „Das ist doch das beste!“

Die Reisenden erzählten davon, wenn sie nach Hausekamen, und die Gelehrten schrieben viele Bücher über dieStadt, das Schloß und den Garten. Aber auch die Nachtigallvergaßen sie nicht: die wurde am höchsten gestellt, und die,welche dichten konnten, schrieben die herrlichsten Gedichte überdie Nachtigall im Walde bei dem tiefen See.

Die Bücher durchliefen die Welt, und einige davon kamenauch einmal zum Kaiser. Er saß in seinem goldenen Stuhleund las und las, jeden Augenblick nickte er mit dem Kopfe,denn es freute ihn, die prächtigen Beschreibungen der Stadt,des Schlosses und des Gartens zu vernehmen. „Aber dieNachtigall ist doch das allerbeste!“ stand da geschrieben.

„Was ist das?“ sagte der Kaiser. „Die Nachtigall kenneich ja gar nicht! Ist ein solcher Vogel in meinem Kaiserreicheund sogar in meinem Garten? Das habe ich nie gehört! Soetwas erst aus Büchern zu erfahren!“

Und hierauf rief er seinen Kavalier. Der war so vornehm,daß, wenn jemand, der geringer als er war, mit ihm zu sprechenoder ihn nach etwas zu fragen wagt

...

BU KİTABI OKUMAK İÇİN ÜYE OLUN VEYA GİRİŞ YAPIN!


Sitemize Üyelik ÜCRETSİZDİR!