Anmerkung:
Im Originaltext vorkommende unterschiedliche Schreibweisen wie»zum erstenmal« : »zum ersten Mal« oder »stehen« : »stehn«wurden beibehalten.
Reisende können den Weg zum Gipfel des Monte Generoso in Mendrisioantreten oder in Capolago mit der Zahnradbahn, oder von Melide ausüber Soana, wo er am beschwerlichsten ist. Das ganze Gebiet gehört zumTessin, einem Kanton der Schweiz, dessen Bevölkerung italienisch ist.
In großer Höhe trafen Bergsteiger nicht selten auf die Gestalt einesbrilletragenden Ziegenhirten, dessen Äußeres auch sonst auffällig war.Das Gesicht ließ den Mann von Bildung erkennen, trotz seinergebräunten Haut. Er sah dem Bronzebildnis Johannes des Täufers, demWerke Donatellos im Dome zu Siena, nicht unähnlich. Sein Haar wardunkel und ringelte über die braunen Schultern. Sein Kleid bestand ausZiegenfell.
Wenn ein Trupp Fremder diesem Menschen nahe kam, so lachten bereits[Pg 10]die Bergführer. Oft wenn dann die Touristen ihn sahen, brachen sie inein ungezogenes Gebrüll oder in laute Herausforderungen aus: Sieglaubten sich durch die Seltsamkeit des Anblicks berechtigt. Der Hirteachtete ihrer nicht. Er pflegte nicht einmal den Kopf zu wenden.
Alle Bergführer schienen im Grunde mit ihm auf gutem Fuße zu stehn.Oft kletterten sie zu ihm hinüber und ließen sich in vertraulicheUnterredungen ein. Wenn sie zurückkamen und von den Fremden gefragtwurden, was da für ein seltsamer Heiliger sei, taten sie meist solange heimlich, bis er aus Gesichtsweite war. Diejenigen Reisendenaber, deren Neugier dann noch rege war, erfuhren nun, daß dieserMensch eine dunkle Geschichte habe und, als »der Ketzer von Soana« vomVolksmund bezeichnet, einer mit abergläubischer Furcht gemischtenzweifelhaften Achtung genieße.
Als der Herausgeber dieser Blätter noch jung an Jahren war und dasGlück hatte, öfters herrliche Wochen in dem schönen Soana zuzubringen,konnte es nicht ausbleiben, daß er hin und wieder den Generoso bestiegund auch eines Tages den sogenannten »Ketzer von Soana« zu sehen[Pg 11]bekam. Den Anblick des Mannes aber vergaß er nicht. Und nachdem erallerlei Widersprechendes über ihn erkundet hatte, reifte in ihm derEntschluß, ihn wiederzusehen, ja, ihn einfach zu besuchen.
Der Herausgeber wurde in seiner Absicht durch einen deutschenSchweizer, den Arzt von Soana, bestärkt, der ihm versicherte, wie derSonderling Besuche gebildeter Leute nicht ungern sehe. Er selber hatteihn einmal besucht. »Eigentlich sollte ich ihm zürnen,« sagte er,»weil mir der Bursche ins Handwerk pfuscht. Aber er wohnt so hoch inder Höhe, so weit entfernt, und wird Gott sei Dank nur von den wenigenheimlich um Rat gefragt, denen es nicht darauf ankäme, sich vom Teufelkurieren zu lassen.« Der Arzt fuhr fort: »Sie müssen wissen, manglaubt im Volk, er habe sich dem Teufel verschrieben. Eine Ansicht,die von der Geistli