Charles-Louis Philippe
Ein Roman
mit
zwanzig Holzschnitten
von
Frans Masereel
1920
Kurt Wolff Verlag München
Autorisierte Übersetzung von Camill Hoffmann
Copyright 1920 by Kurt Wolff Verlag in München
Der Boulevard Sebastopol war am Tagenach dem vierzehnten Juli noch lebendig.Halb zehn Uhr abends. Die Bogenlampen,schreiend weiß zwischen den Baumreihen,überschneiden die Schatten oder sind imBlattwerk verloren. Die Warenhäuser sindgeschlossen: „Pygmalion“, die „Lämmlein“,der „Holländische Hof“, „Zur billigstenQuelle der Welt“, und ihre finstern Fassaden,die soeben den Bürgersteig erhellten, verdunkelnihn jetzt gleichsam. Die hohen vergoldetenAufschriften, die an den Balkonenin der Sonne glänzten, im ersten Stock, imzweiten und in den andern, verlieren sich indem Schwarz mit ihren Buchstaben ausgelbem Holz und scheinen am Abend auszuruhenwie der Großhandel. Blumen undFedern, Ausverkäufe, Lebensmittel, Stoffehaben auf dem Boulevard Sebastopol ihreRolläden heruntergelassen und sind verstummt.
Zu dieser Stunde betrachten die Fußgängernicht mehr die Schaufenster. Das Nachtlebenbeginnt, mit andern Zwecken. Die Wagenhaben Laternen: die Fiaker strahlende Lichterwie zwei vergnügte Augen und die Tramwaysein rotes oder grünes Feuer, und sieheulen wie eine erregte Menschenmenge. Siefolgen einander, kreuzen sich, stampfen undrollen. Am Horizont gegen die großen Boulevardserhellt die Luft sich stark, erhebt sichzum Himmel und ist wie von leuchtendemGeist belebt. Das Ziel ist nicht hier, auf demBoulevard Sebastopol, wo die Warenhäusergeschlossen sind. Die Wagen eilen.Die nach den großen Boulevards wollen,fahren in das Licht hinein und hasten dahinwie Menschen, die ein Schauspiel anzieht.
Der Boulevard Sebastopol lebt ganz undgar auf dem Bürgersteig. Auf dem breitenSteig, in der blauen Luft einer Sommernacht,verbringt Paris und verlängert amTage nach dem vierzehnten Juli einen Überrestdes Festes. Die Bogenlampen, das Laubder Bäume, die Wagen, die rollen, und dieganze Erregung der Fußgänger wirken zusammenso scharf und schwer wie Rauschund Ermüdung. Es ist das übliche Schauspielaller Abende, aber es gibt Straßeneckenoder Häuserfronten, die noch die Erinnerungan die gestrigen Tänze bewahren.Es gibt gewisse Geräusche oder gewisseSchreie, die an die Lieder der Betrunkenendenken lassen. Es gibt Laternen oderFahnen, die in den Fenstern zurückgebliebensind und eine Fortsetzung der Fröhlichkeit zufordern scheinen. Man errät, was in denSeelen vorgeht. Die einen, die sich gesternvergnügt haben, blicken noch nach einemVergnügen aus, dem sie sich hingebenkönnten. Denn die Menschen, die einmal dieFreude kennen gelernt haben, rufen sie ewigherbei. Die andern, die arm sind, die häßlichsind und die ängstlich sin