Anmerkungen zur Transkription:

Der Text stammt aus: Imago. Zeitschrift für Anwendung derPsychoanalyse auf die Geisteswissenschaften III (1914). S. 15–36.

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurdenübernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurdenkorrigiert. Änderungen sind im Text gekennzeichnet,der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus.

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Der Moses des Michelangelo[1].

Von ***

Ich schicke voraus, daß ich kein Kunstkenner bin, sondern Laie.Ich habe oft bemerkt, daß mich der Inhalt eines Kunstwerkesstärker anzieht als dessen formale und technische Eigenschaften,auf welche doch der Künstler in erster Linie Wert legt. Für vieleMittel und manche Wirkungen der Kunst fehlt mir eigentlich dasrichtige Verständnis. Ich muß dies sagen, um mir eine nachsichtigeBeurteilung meines Versuches zu sichern.

Aber Kunstwerke üben eine starke Wirkung auf mich aus,insbesondere Dichtungen und Werke der Plastik, seltener Malereien.Ich bin so veranlaßt worden, bei den entsprechenden Gelegenheitenlange vor ihnen zu verweilen, und wollte sie auf meine Weise erfassen,d. h. mir begreiflich machen, wodurch sie wirken. Wo ich dasnicht kann, z. B. in der Musik, bin ich fast genußunfähig. Eine rationalistischeoder vielleicht analytische Anlage sträubt sich in mirdagegen, daß ich ergriffen sein und dabei nicht wissen solle, warumich es bin, und was mich ergreift.

Ich bin dabei auf die anscheinend paradoxe Tatsache aufmerksamgeworden, daß gerade einige der großartigsten und überwältigendstenKunstschöpfungen unserem Verständnis dunkel gebliebensind. Man bewundert sie, man fühlt sich von ihnen bezwungen,aber man weiß nicht zu sagen, was sie vorstellen. Ich bin nicht belesengenug um zu wissen, ob dies schon bemerkt worden ist, oderob nicht ein Ästhetiker gefunden hat, solche Ratlosigkeit unseresbegreifenden Verstandes sei sogar eine notwendige Bedingung fürdie höchsten Wirkungen, die ein Kunstwerk hervorrufen soll. Ichkönnte mich nur schwer entschließen, an diese Bedingung zuglauben.

Nicht etwa daß die Kunstkenner oder Enthusiasten keineWorte fänden, wenn sie uns ein solches Kunstwerk anpreisen.Sie haben deren genug, sollte ich meinen. Aber vor einersolchen Meisterschöpfung des Künstlers sagt in der Regel jederetwas anderes und keiner das, was dem schlichten Bewunderer dasRätsel löst. Was uns so mächtig packt, kann nach meiner Auffassungdoch nur die Absicht des Künstlers sein, insoferne es ihmgelungen ist, sie in dem Werke auszudrücken und von uns erfassenzu lassen. Ich weiß, daß es sich um kein bloß verständnismäßigesErfassen handeln kann; es soll die Affektlage, die psychische Konstellation,welche beim Künstler die Triebkraft zur Schöpfung abgab,16bei uns wieder hervorgerufen werden. Aber warum soll die Absichtdes Künstlers nicht angebbar und in Worte zu fassen sein wie irgendeineandere Tatsache des seelischen Lebens? Vielleicht daß dies beiden großen Kunstwerken nicht ohne Anwendung der Analyse gelingenwird. Das Werk selbst muß doch diese Analyse ermöglichen,wenn es der auf uns wirksame Ausdruck der Absichten und Regungendes Künstlers ist. Und um diese Absicht zu erraten, mußich doch vorerst den Sinn und Inhalt des im Kunstwerk Dargestelltenherausfinden, also es deuten können. Es ist also möglich,daß ein solches Kunstwerk der Deutung bedarf, und daß ich erstnach Vollziehung derselben erfahren kann, warum ich einem so gew

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