This etext was prepared by Michael Pullen,

globaltraveler5565@yahoo.com.

Wilhelm Meisters Lehrjahre—Buch 3

Johann Wolfgang von Goethe

Drittes Buch

Erstes Kapitel

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn!

Kennst du das Haus, auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?

Dahin! Dahin
Möcht ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn!

Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut:
Kennst du ihn wohl?

Dahin! Dahin
Geht unser Weg; o Vater, laß uns ziehn!

Als Wilhelm des Morgens sich nach Mignon im Hause umsah, fand er sienicht, hörte aber, daß sie früh mit Melina ausgegangen sei, welchersich, um die Garderobe und die übrigen Theatergerätschaften zuübernehmen, beizeiten aufgemacht hatte.

Nach Verlauf einiger Stunden hörte Wilhelm Musik vor seiner Türe. Erglaubte anfänglich, der Harfenspieler sei schon wieder zugegen; alleiner unterschied bald die Töne einer Zither, und die Stimme, welche zusingen anfing, war Mignons Stimme. Wilhelm öffnete die Türe, das Kindtrat herein und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.

Melodie und Ausdruck gefielen unserm Freunde besonders, ob er gleichdie Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophenwiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie insDeutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von fernenachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem diegebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängendeverbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichtsverglichen werden.

Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwasSonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragenwollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer;das "Kennst du es wohl?" drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus;in dem "Dahin! Dahin!" lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr"Laß uns ziehn!" wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zumodifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend undvielversprechend war.

Nachdem sie das Lied zum zweitenmal geendigt hatte, hielt sie einenAugenblick inne, sah Wilhelmen scharf an und fragte: "Kennst du dasLand?"—"Es muß wohl Italien gemeint sein", versetzte Wilhelm; "woherhast du das Liedchen?"—"Italien!" sagte Mignon bedeutend, "gehst dunach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier."—"Bist du schondort gewesen, liebe Kleine?" fragte Wilhelm.—Das Kind war still undnichts weiter aus ihm zu bringen.

Melina, der hereinkam, besah die Zither und freute sich, daß sie schonso hübsch zurechtgemacht sei. Das Instrument war ein Inventarienstückder alten Garderobe. Mignon hatte sich's diesen Morgen ausgebeten,der Harfenspieler bezog es sogleich, und das Kind entwickelte bei

...

BU KİTABI OKUMAK İÇİN ÜYE OLUN VEYA GİRİŞ YAPIN!


Sitemize Üyelik ÜCRETSİZDİR!