EDGAR ALLAN POE
LIGEIA
UND ANDERE NOVELLEN
SIEBEN GEDICHTE
EDGAR ALLAN POE
MIT VIERZEHN BILDBEIGABEN
VON
ALFRED KUBIN
BERLIN / IM PROPYLÄEN-VERLAG
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Copyright 1920 by Propyläen-Verlag G. m. b. H.in Berlin
Und es liegt darin der Wille, dernicht stirbt. Wer kennt die Geheimnissedes Willens und seine Gewalt? DennGott ist nichts als ein großer Wille, dermit der ihm eignen Kraft alle Dingedurchdringt. Der Mensch überliefertsich den Engeln oder dem Nichts einzigdurch die Schwäche seines schlaffenWillens.
Joseph Glanvill
Bei meiner Seele! ich kann mich nicht erinnern, wie, wann und woich die erste Bekanntschaft machte — der Lady Ligeia. LangeJahre sind seitdem verflossen, und mein Gedächtnis ist schwach gewordendurch vieles Leiden. Vielleicht auch kann ich mich dieserEinzelheiten nur darum nicht mehr erinnern, weil der Charaktermeiner Geliebten, ihr umfassendes Wissen, ihre eigenartige und dochmilde Schönheit und die überwältigende Beredsamkeit ihrer sanfttönenden Stimme — weil dies alles zusammen nur ganz allmählichund verstohlen den Weg in mein Herz nahm, zu allmählich, als daßich daran gedacht hätte, mir jene äußeren Umstände einzuprägen.
Ich habe jedoch das Empfinden, als sei ich ihr zum ersten Mal undhierauf wiederholt in einer altertümlichen Stadt am Rhein begegnet.Und eins weiß ich bestimmt: sie erzählte mir von ihrer Familie, diesehr alten Ursprungs war. — Ligeia! Ligeia! — Trotzdem ich inStudien vergraben bin, deren Art mehr noch als alles andre dazuangetan ist, mich von Welt und Menschen abzusondern, genügt dieseine süße Wort „Ligeia“, um vor meinen Augen ihr Bild erstehenzu lassen — das Bild von ihr, die nicht mehr ist. Und jetzt, währendich schreibe, überfällt mich urplötzlich das Bewußtsein, daß ich vonihr, meiner Freundin und Verlobten, der Gefährtin meiner Studienund dem Weib meines Herzens, den Namen ihrer Familie nie erfahrenhabe. War es ein schalkhafter Streich, den Ligeia mir gespielthatte? War es ein Beweis meiner bedingungslosen Hingabe, daßich nie eine Frage danach tat? Oder war es meinerseits eineLaune, ein romantisches Opfer, das ich auf den Altar meiner leidenschaftlichenErgebenheit niedergelegt hatte? Der bloßen Tatsachesogar kann ich mich nur unklar erinnern — was Wunder, daß ich dieGründe dafür vollständig vergessen habe! Und wirklich, wennjemals der romantische Geist der bleichen und nebelbeschwingtenAschtophet des götzengläubigen Ägyptens, wie die Sage meldet, überunglückliche Ehen geherrscht hat, so ist es gewiß, daß er mein